Teil 1 - Warum ist die biomedizinische Forschung so schwer?

Die biomedizinische Forschung ist schwer und zeitaufwendig. Aber warum das denn? Die Herausforderung in der Forschung wird von der Natur geliefert und zwar von unserer Biologie. Biologische Systeme sind unglaublich komplex und hoch dynamisch. In diesem Artikel wird das genauer erläutert.

Man muss das wahrscheinlich nicht extra erwähnen, weil es eigentlich selbstverständlich ist, aber die größte Herausforderung liefert die Natur selbst in der Form unserer Biologie. Unserer biologischer Grundbaustein ist die Zelle. Die Bezeichnung "Biologie" kann sogar irreführend sein, weil wir hier mit einem komplexen Zusammenspiel zwischen der (Bio)Chemie und der Physik auf der fundamentalen Ebene zu tun haben. Auf dieser fundamentalen Ebene ist die eigentliche Biologie aufgebaut. Und die Komplexität, die sich auf der Ebene der Biologie abspielt, spielt in einer ganz anderen Liga.

Ihr kennt das typische Schema einer (tierischen) Zelle von der Schule oder aus der Google-Bildersuche. Ich habe in das Schema ein Paar Details mehr reingebaut:

Ein typisches Schema einer tierischen Zelle, wie man sie in der Google-Suche und in vielen Lehrbüchern findet.
Ein klassisches Schema einer tierischen Zelle.


Das Problem ist, dieses Schema hat zwar etwas mehr Details, es ist immer noch eine simplistische Darstellung und ist weit von der Realität entfernt.

In der heutigen Gesellschaft muss ein Forschungsvorhaben irgendwie finanziert werden und die wirtschaftlichen Interessen spielen zudem leider eine große Rolle. Die wirtschaftlichen Interessen und der aktuelle technologischer Fortschritt haben keinen Einfluss auf die Natur. Sie geben nur die Forschungsrichtung und das Tempo vor.

Eine Zelle ist in der Realität vollgepackt mit Organellen und den unterschiedlichen Molekülen verschiedener chemischen Klassen, die bestimmte Strukturen aufbauen, die Stoffwechselprozesse in der Zelle steuern, die die Umgebung und das Innere der Zelle überwachen und signalisieren, wenn irgendwas von physiologischer Norm abweicht. Viele Moleküle sind zudem multifunktional, sie sind z. B. gleichzeitig am Strukturaufbau und an der Signalisierung beteiligt. Es sind nicht nur die Proteine, sondern auch Kohlenhydrate, Fettsäuren und die RNA.

Also was ist dann das Problem?

Die kurze Antwort:

Es ist die Komplexität und die krasse Dynamik der biologischen Systeme. Vor allem, wie die Moleküle mit anderen Molekülen interagieren und diese Interaktion durch den Zeitpunkt, gleichzeitigem Vorhandensein anderer Moleküle, dem Ort in der Zelle, den Signalen von außerhalb und innerhalb der Zelle gleichzeitig bestimmt wird. Und da eine Zelle vollgepackt ist, d. h. Organellen und die Moleküle sind im Zellinneren sehr dicht zusammengedrängt, finden alle Prozesse auch noch in dieser dicht zusammengedrängten Umgebung statt.

Die lange Antwort:

Problem Nr. 1: die Komplexität einer einzelnen Zelle

Eine Zelle besteht aus Organellen und Molekülen verschiedener chemischen Klassen. Alle Organellen und Molekülen wechselwirken miteinander und untereinander und die Art und die Ausprägung dieser Wechselwirkung ist stark abhängig vom Ort, dem Zeitpunkt, dem Status im Inneren der Zelle, dem Status außerhalb der Zellen und den Signalen aus anderen Bereichen des Organs oder gar des Körpers, die von der Zelle registriert werden. Alles gleichzeitig. Und diese Wechselwirkung wird zudem dauernd von anderen Signalen moduliert. Auch gleichzeitig. Warum ist das eine Herausforderung? Weil man bei der Erforschung zuerst identifizieren und auseinander halten muss, was ist was und was macht es, zuerst separat pro Molekül, danach in der Kombination mit anderen Molekülen und dabei auch noch unterschiedlichen Zeitpunkte, welcher Organ und/oder welche Zellen das genau sind, um den biologischen Kontext berücksichtigen zu können.

Bekommst du eine Hirnschmelze? Um dich zu beruhigen, du bist nicht allein! Auch die Wissenschaftler bekommen routiniert eine Hirnschmelze, aber zugegeben, die meisten mögen sowas und es ist ein schlechter Vergleich. Hoffentlich, diese Info hilft beruhigt dich besser: Studenten, die sowas studieren, bekommen häufig eine Hirnschmelze-Super-GAU in regelmäßigen Zeitabständen.

Problem Nr. 2: Proteine sind Multitalente.

Weil das Ganze nicht kompliziert genug ist, haben viele Proteine so evolviert, dass sie mehrere Funktionen gleichzeitig ausführen können oder ein gleiches Protein führt eine andere Funktion aus, je nachdem, wo in der Zelle dieses Protein sich befindet und zu welchem Zeitpunkt oder viele Proteine lagern sich zusammen zu einem großen Proteinkomplex und jede Komponente dieses Komplexes kann die Endfunktion anders beeinflussen. Und die Situation rund um ein Protein oder Proteinkomplex beeinflusst die Funktion zusätzlich. Selbstverständlich passiert alles gleichzeitig.

Problem Nr. 3: eine Zelle ist bis zum Platzen voll!

Das Innere einer Zelle ist eine extrem dichte Zusammendrängung von Organellen und Molekülen. Es gibt keinen freien Fleck, weil alles, was von den Molekülen nicht besetzt wird, wird immer von den Wasser-Molekülen besetzt. Eine Zelle ist ja in der wässrigen Umgebung evolviert und alle Stoffwechselprozesse finden somit im Wasser statt. Weil das Problem Nr. 1 immer noch nicht kompliziert genug ist, diese dichte Zusammengedrängung macht alles noch komplexer.

Zum Vergleich, hier ist die elektronenmikroskopische Aufnahme einer Zelle:

Elektronenmikroskopische Aufnahme eeiner tierischen Zelle. Quelle: The Open University

Die elektronenmikroskopische Aufnahme zeigt zwar das Innere einer Zelle realitätsnah, aber eine gewisse Verzerrung gibt es immer noch. Die Gewebeproben bzw. die Zellen müssen zuerst vorbereitet werden, um unter dem Elektronenmikroskop überhaupt irgendwas sehen zu können. Diese Vorbereitung beinhaltet die Behandlung mit Chemikalien, die Moleküle in der Zelle rauslösen und auswaschen können. Dann müssen die Proben in sehr dünne Schichten geschnitten werden und beim Schneiden sind die Proben der mechanische Scherung ausgesetzt, die für Risse oder Stauchung sorgen können. Diese Problematik fällt aber mit jeder Verbesserung und Optimierung der Vorbereitungsprozedur weniger ins Gewicht.

Was eine elektronenmikroskopische Aufnahme nicht zeigt ist, wie vollgepackt eine Zelle in der Wirklichkeit ist. Das ist ein kleiner Ausschnitt des Zellinneres, die auf dem Computer rekonstruiert wurde:

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Unterschiedliche Proteine in der Zelle, die dicht zusammengedrängt sind. Quelle: Phys.org
 
Das Bild zeigt Proteine unterschiedlichen Größe und veranschaulicht, wie dicht zusammengedrängt das Zellinnere eigentlich ist. Das ist problematisch und faszinierend zugleich.
Es ist problematisch, weil z. B. ein Signalmolekül in diesem Gedrängel irgendwie von A nach B kommen muss und die Wissenschaft versteht immer noch nicht, woher ein Signalmolekül weiß, wohin genau er muss und wie er in diesem Gedrängel seinen Zielort findet.
Es ist faszinierend, weil die Moleküle dies tatsächlich tun, und zwar routiniert. Zu verstehen, wie das möglich ist, ist einer der vielen Kopfschmerzen in der Biophysik und Biochemie.



Coming soon: Warum ist die biomedizinische Forschung so unnötig schwer ? - Teil 2.

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