Covid-19: Wie in den Medien die Triage kritisiert wird

In den Medien werden die Ärzte oft kritisiert und als die Herrscher über das Leben und Tod kritisiert. Was die Kritiker völlig ignorieren ist, wie oft Mediziner schwere Entscheidungen treffen müssen. Die neuste Kritik gilt der Triage, die aber unvermeidbar ist


Mich erreichte eine Email mit der Bitte, meine Position zu den folgenden Zeitungsartikeln zu erläutern:

1. Ein Artikel, der in Frankfurter Allgemeine erschienen ist: hier geht es zum Artikel

2. Ein Artikel von ND: hier geht es zu diesem Artikel

Der Auslöser für den beiden Artikeln war die Veröffentlichung der klinisch-ethischen Empfehlungen  von DIVI zur Vorgehensweise in der Notfall- und der Intensivmedizin während der Covid-19-Pandemie.

Zuerst meine Position zu den klinisch-ethischen Empfehlungen von DIVI:

dazu habe ich nichts zu sagen und nichts zu kritisieren. Ich halte es für richtig, was in den Empfehlungen aufgelistet wird. Ich persönlich halte solche "zentralen" Empfehlungen für richtig, weil sie eine standardisierte Handlungsgrundlage und eine Richtlinie vorgeben.
Aus meiner Sicht ist es falsch, die Empfehlungen dieser Art zu kritisieren. Man soll diese Empfehlungen viel mehr als ein Protokoll betrachten, das man in Krisensituationen als Handlungsgrundlage heranziehen kann (und soll). Das ist umso wichtig, weil die Empfehlungen auf der Grundlage der klinischen Realität formuliert sind und der große Teil der Bevölkerung in unseren modernen Gesellschaft dazu tendiert, die eigene Verantwortung zu verharmlosen, den anderen zu unterjubeln oder, noch schlimmer, gar zu ignorieren.
Ich ignoriere vorerst den Fakt, dass an der Formulierung der Empfehlungspunkten auch die Praxis-fernen Theoretiker wie die medizinische Ethiker und Rechtswissenschaftler beteiligt sind. Es ist jedoch eine sehr gute Sache, dass Praktiker und Theoretiker ihre Sichtweisen zu einem Konsensus zusammenbringen und eine Handlungsgrundlage schaffen, auf der man aufbauen kann, die man im Prozess verbessern, ergänzen und optimieren kann.

Meine Position zum ersten Artikel, der in Frankfurter Allgemeine veröffentlicht wurde:

Dieser Artikel ist für mich schwer zu beurteilen, weil der Inhalt allgemein und unverbindlich ist.
Ich habe an diesem Artikel folgendes zu kritisieren:
auf den ersten Blick und beim ersten Durchlesen scheint der Artikel eine kritische Auseinandersetzung mit den DIVI-Empfehlungen zu sein. Beim wiederholten und kritischem Durchlesen wurde bei diesem Artikel aus meiner Sichtweise vielmehr gezielt nach einer Schwachstelle in den DIVI-Empfehlungen gesucht und darauf konzentriert. Egal aus welcher Perspektive ich diesen Artikel betrachte, er macht einen starken Eindruck, ein Artikel eher um des Contents willen und nicht als ernst gemeinte und realistisch-kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu sein.
Zudem ist der Inhalt etwas entfernt von der klinischen Realität und wurde viel mehr  ausgehend von der rechtswissenschaftlichen/theoretisch-ethischen Position geschrieben.

Wenn der Author eine solche Thematik anspricht, dann bitte schön eine klare Position dazu zeigen und nicht unverbindlich unterschiedliche Positionen miteinander zu verbinden, die man zwar in der Theorie unter einem Dach zusammenbringen kann, die aber in der Realität nicht so recht miteinander kompatibel sind.

Meine Position zum zweiten Artikel, der in nd erschienen ist:

Ich habe schon immer ein Problem mit den Artikeln gehabt, die eine starke sozialpolitische/gesellschaftspolitische Linie haben, die aber eine fachlich sehr spezifische Situation ansprechen, wie z.B. eine notfall-klinische Situation. Ich habe deswegen ein Problem mit solchen Artikeln, weil in ihnen die Grenze zwischen einer ernst zu nehmenden Kritik an der Situation und social justice warrior-Aktionismus verwischt ist. Es kommt mir wie in Opportunismus und Werte-Signalisierung vor.

Aus meiner Sicht hat dieser Artikel eine starke social justice warrior-Komponente. Versteht mich nicht falsch, ich habe nichts gegen gesellschaftspolitisches Engagment. Dieser Engagment ist richtig und in unseren sozial ahnungslosen und öfters ignoranten Gesellschaft haben wir viel zu wenig davon.
Nur: in diesem Fall ist die Kritik wenig sagend und hier werden viele Vergleiche verwendet, die unzulässig sind. Die unzulässige Vergleiche sind z.B.: Vergleich mit der Lage in den Krankenhäusern in Spanien (dort ist ganz anderes politisches und soziales System, eine andere Struktur der medizinischen Versoregung, die Situation dort ist kritisch und dieses Beispiel ist einfach ein Cherry-picking).
Oder der Vergleich, dass die Triage aus dem 18 Jhd stammt. Es ist einerseits richtig, andererseits zu pauschalisierend, da die Natur der Krisensituationen sich nicht ändert, egal ob eine Krise im 18 Jhd stattfindet oder im 21 Jhd. (näheres dazu weiter unten).

Dieser Artikel ist insofern keine Hilfe, weil es ein reiner diffuser Angriff ist, mit keinen Vorschlägen zur Verbesserung oder Denkanstößen.
Ich bin mir sicher: wenn die Authorin dieses Artikels 1 Jahr Pflegepraktikum auf einer normalen Krankenhaus-Station absolvieren würde, wird sich ihre Position drastisch ändern. Und ich rede nicht von einer Intensivstation. Es reicht schon eine "normale" Station.

Eine Triage ist eine bittere Notwendigkeit, egal ob sie aus dem 18 Jhd stammt oder aus den antiken Zeiten. Die Autoren der beiden Artikeln, vor allem der von nd, vertretten die Ansicht, dass eine Triage gegen die Menschenwürde, das deutsche Grundgesetz und die moderne Ethik verstoßt. Während diese Position schon richtig ist und ich sie befürworte, ist diese Position momentan nur in der Theorie realisierbar und sie ist von der Realität entkoppelt. Es ist schlichtweg unfair, die Handlungsweise der Mediziner anzugreifen. Warum ich so denke, erläutere ich weiter unten.

Die Situation der Menschen mit Behinderungen ist etwas komplexer. Die sozialpolitische Aspekte werde ich vorerst ignorieren, weil die medizinische Aspekte überwiegen. Hier muss man jede Behinderung differenziert betrachten. Pauschalisieren richtet hier viel mehr Schaden, als man denkt.

Es ist ein Trilemma, in der die Krankenhäuser momentan stecken:
auf der einer Seite sind die Ärzte dem Hippocratus Eid verpflichtet (die ethische Seite), auf der anderen Seite sind die klinischen Ressourcen limitiert (auch dank der Pharmaindustrie, die zeitweise schon skruppelos vorgeht), auf der dritten Seite sind die Handlungsgrenzen durch das moderne wirtschaftlich orientierte Gesellschaftssystem gesetzt --> je nach Krankenhaus-Größe und ihrer Lage kann es unter Umständen um die finanzielle Existenz gehen. Das sind drei Seiten, die miteinader nicht kompatibel ist. Es muss irgendein Kompromiss her. Ich persönlich finde, dass die Krankenhäuser, Kliniken und die Arztpraxen sich wacker schlagen.

Jetzt komme ich zu der Sache mit den Menschen mit Behinderungen. Was mir nicht gefällt ist, dass die im nd-Artikel angesprochene Behinderungen in der Covid-Situation so oberflächlich und pauschal behandelt werden und die Realität ganz banal ignoriert wird. Den guten gesellschaftlich-politischen Absichten der Authoren zu Ehren, aber wenn sie von der Realität entkoppelt sind, sind sie nichts wert. Hier muss man jede Behinderung doppelt differenziert behandeln: erst die Art der Behinderung und dann wie sie von der Covid-Situation und der Krankenhausversorgung (sprich Triage) betroffen ist und somit wie man dabei vorgehen soll.

Ich selbst bin praktisch gehörlos. Aber meine Behinderung beeinflußt zum Glück das Immunsystem nicht. Und der eigene Immunitätstatus ist extrem wichtig, wenn man mit Covid-19 zu tun hat. Jeder und jede mit einem schwachem und somit angreifbaren Immunsystem, aus welchem Grund auch immer, gehört medizinisch betrachtet in die Gruppe der Menschen mit Komorbiditäten.

Hat jemand eine Behinderung, bei der das Immunsystem abgeschwächt ist, hat man schon ein höheres Ansteckungsrisiko. Lässt es sich halbwegs gut medikamentös kontrollieren und wenn die Pharmaindustrie keinen Mist dabei macht und die nötigen Medikamenten zu kriegen sind, und wenn man gesundheitlich primär nicht gefährdet ist (dem Umstand entsprechend), ist die beste Option angesicht der aktuellen Situation zu Hause zu bleiben, ob es einem gefällt oder nicht. Eine Vermeidungsstrategie ist momentan hier die beste Option und die billigste. Von der Triage ist man hier nicht betroffen.

Eine ganz andere Situation entsteht, wenn eine Person eine Behinderung z.B. in der Form einer chronischen Krankheit hat, in dessen Rahmen blöderweise das eigene Immunsystem stark abgeschwächt ist und gegen Covid nicht viel ausrichten kann. Und wenn diese Person auch noch infiziert ist. Das perverse an dieser Situation ist die Tatsache, dass wir in der Industrieländern mehr als genug technische und medizinische Mitteln haben, um diese Person zu behandeln und zwar mit einer positiven Prognose. Die klinischen Ressourcen sind aber leider limitiert.

An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass es unfair ist, die Triage als ein archaisches Überbleibsel der Kriege aus dem 18 Jhd zu betrachten. Die Triage bleibt so lange aktuell, solange unsere Gesellschaftsstruktur auf dem Geldsystem aufgebaut ist. Das Einzige was sich dabei ändert, ist die moralische Grundlage und die fundamentale Logik, von der ausgehend die Entscheidungen getroffen werden. Die moralische Grundlage und die fundamentale Logik sind ja je nach der historischen Epoche anders.

In Krisensituationen geht es einfach nicht anders, auch in der nahen Zukunft wird es sich wohl nicht ändern, dass man harte Entscheidungen aufgrund der limitierten Ressourcen treffen muss. Hier geht es wirklich darum, alle Menschen zu retten, die man retten kann. Das eigentliche Problem ist: was tun, wenn es bei jemanden so weit fortgeschritten ist, dass man dieser Person nicht mehr geholfen werden kann? Es ist egal, wie heftig man kritisiert, alle möglichen rechtlichen Konsequenzen androht, bis zum Tode beschimpft, die Realität wird man trotzdem nicht ändern können. Was hier dann passiert: man verliert wertvolle Ressourcen, die man zur Rettung von "rettbaren" Menschen einsetzen kann.

Was die Kritiker übersehen oder ignorieren oder sich dessen nicht bewusst sind: wir sind heutzutage medizinisch so weit fortgeschritten, dass wir den "unrettbaren" Menschen aber den Schmerz komplett wegnehmen kann, mit Hilfe der Palliativmedizin. Und wenn man sich die Geschichte anschaut, es ist eigentlich das erste Mal in der Geschichte, dass man den Menschen, den man nicht helfen kann, in dieser Qualität und diesem Ausmaß palliativ begleiten kann. Niemand muss dabei leiden und die Menschenwürde bleibt unangetastet. Hier muss man gar nicht das Grundgesetz zur Menschenwürde heranziehen. Das ist die moralische bzw. ethische Verpflichtung jedes Einzelnes, auch ohne dass man dazu gesetzlich gezwungen werden muss.

Es wird oft kritisiert, dass ein Menschensleben sich nicht durch ein anderes Menschenleben ersetzen lässt bzw. dass die Mediziner Gott spielen und über das Leben und Tod entscheiden. Was die Authoren von solchen Artikeln nicht wissen, es kommt zu den Situationen, häufiger als es einem lieb ist, in denen unmögliche Entscheidungen getroffen werden müssen.
Covid-19 beiseite, ein Beispiel mit einem Unfall zum Veranschaulichen der Problematik: es geht um Minuten oder gar um Sekunden, es muss schnell gehandelt werden, die Ressourcen sind limitiert und von 2 Betroffenen lässt sich nur eine Person retten. Einer der Betroffenen ist ein Kind, das ein ganzes Leben vor sich hat, der andere Betroffener ist ein Rentner... . Das ist jetzt ein etwas allgemeines Beispiel nur zum veranschaulichen, worauf ich hinaus will.

Das Grundgesetz kann hier nur schlecht herangezogen werden. Es ist aber eine wichtige Grundlage, auf der alles augebaut ist. Kommt es aber tatsächlich zu einer solchen Krisensituation, in der es um die harte und unter Umständen auch um die unmögliche Entscheidungen geht, hilft das Grundgesetz nicht weiter, egal wie demokratisch und human es ist... .

Leider ist der Alltag in der Medizin ganz anders, als es die Artikel-Autoren sich vorstellen, ihren edlen Absichten in Ehren. In den Krisensituationen haben die Mediziner es noch schwerer... .

Zur guten Letzt: Die Autorin vom nd-Artikel spricht die Komorbidität an und bezeichnet sie im Kontext der DIVI-Empfehlungen als "pauschalisierende Komorbidität".  Hmmmmm....nichts ist pauschalisierend in der DIVI-Empfehlung. Richtig, es ist ein allgemein formuliertes Protokol, das man nur als eine Richtlinie betrachten soll. Aber ein Protokol ist dafür da, um im Fall einer Krisensituationen auf sie vorbereitet zu sein und es liefert klare Handlungsstruktur. Jedes (Handlungs)Protokoll lässt sich verbessern und optimieren, umso mehr, weil jede Krisensituation extrem dynamisch und anders ist.

Wie ich schon erwähnt habe, ich empfehle der Autorin des nd-Artikels 1 Jahr Pflegepraktikum auf einer Krankenhaus-Station... . 

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