Sauerstoff: ein lebenswichtiges Gift

Sauerstoff ist lebensnotwendig und gleichzeitig ein Gift


Sauerstoff ist lebensnotwendig. Ohne Sauerstoff überleben wir nur einige Minuten, aber das Zeug kann uns auch töten. Wie geht das denn?

Der Sauerstoff ist ein Radikal und wie alle Radikale hat er ein großes Problem mit seiner hohen Aggression. Der Sauerstoff reagiert mit fast allen Elementen direkt, und zwar unter starker Energiefreisetzung in der Form der Wärme, manchmal mit einer Feuerentwicklung und einem Knall (Redox-Reaktionen). Wenn sowas in der Zelle passiert, bringt das die Zelle schlichtweg um. In den Zellen produziert Sauerstoff wegen seiner Bindungsaggressivität noch sogenannte reaktive Sauerstoffspezies (ROS, reactive oxygen species), entweder direkt oder als Nebenprodukte des Stoffwechsels. ROS sind unstabile Moleküle, die Sauerstoff enthalten und die leicht mit anderen Molekülen in den Zellen reagieren und dadurch viel Schaden anrichten. ROS greifen Proteine, DNA, RNA an und können so den Zelltod auslösen. Zu ROS
 gehören z. B.:
  • Wasserstoffperoxid H2O2. Wie Wasser, nur mit einem Sauerstoffatom zu viel und stark ätzend.
  • Superoxidanion O2-. Das ist ein Sauerstoffmolekül, das einen freien Elektron mehr hat, als es ihm guttut.
  • Peroxide O22-. Das ist ein Sauerstoffmolekül, das gleich zwei freie Elektronen mehr hat.



Die ROS entstehen auch durch die energiereiche Strahlung, wenn sie auf sauerstoffenthaltende Verbindungen trifft. Deswegen ist übrigens die strahlungsblockierende Ozonschicht so wichtig.

Die anaerobe Lebensformen haben dieses Problem nicht, aber alle aerobe Organismen müssen zu viel Sauerstoff und die anfallenden ROS in den Zellen abfangen und entschärfen, denn hier geht es den Zellen (und uns) buchstäblich ums Leben oder Tod. Alle aerobe Organismen haben ausgeklügelte molekulare Systeme entwickelt, die genau das tun. Zum Leben müssen alle Organismen aus Nahrungsstoffen Energie gewinnen, vor allem aus Glukose, die abgebaut wird. Die Zelle benutzt aber eine chemische Energieform, bei der die nötige Energie in einem Molekül gespeichert ist. Dieses Molekül ist ATP  (Adenosintriphosphat). Bei der ATP-Gewinnung ist der Sauerstoff beteiligt, in dem sich der Sauerstoff mit dem Wasserstoff zum Wasser verbindet und dabei die zum Leben notwendige Energie entsteht. Es ist aber selbstmörderisch für eine Zelle, den Sauerstoff direkt mit dem Wasserstoff binden zu lassen, weil die dabei freigesetzte Energie die Zelle umbringt.

Deswegen nutzen die Zellen einen ausgeklügelten Mechanismus namens Atmungskette, in der die Energiegewinnung in mehrere Reaktionsschritten aufgeteilt ist. Die Atmungskette besteht aus einer Serie von 5 großen Proteinkomplexen, wobei jeder Komplex für einen bestimmten Reaktionsschritt zuständig ist. Der Sauerstoff kommt erst ganz zum Schluss der Reaktion ins Spiel. In den ersten  Reaktionsschritten optimale Bedingungen geschaffen, sodass der Sauerstoff und der Wasserstoff gefahrlos für die Zelle zusammen kommen können. Während der ganzen Zeit wird der Sauerstoff durch ein Hilfsprotein namens Cytochrom C festgehalten, damit er nicht ungefragt mit allem reagiert, was er als erstes erwischt. Sobald die nötige Bedingungen erzeugt wurden kommt es zu einer kontrollierten Reaktion von Sauerstoff und Wasserstoff, dabei entsteht Wasser. Die im Laufe der Atmungskette erzeugte Energie wird in einem Molekül namens ATP (Adenosintriphosphat) gespeichert. ATP ist die eigentliche (chemischen) Energieform, die die Zelle versteht und von der viele Prozesse in der Zelle angetrieben werden. ATP muss in der Zelle permanent regeneriert oder neu erzeugt werden und jedes Mal muss die Zelle den gesamten Sauerstoff in ihr streng überwachen. Und nicht nur in der Atmungskette muss der Sauerstoff in Zaun gehalten werden, sondern in allen Prozessen, die mit dem Sauerstoff zu tun hat, wie z. B. in roten Blutkörperchen, die ja Sauerstoff transportieren.

Aber wie schützt sich die Zelle denn von den ROS, die im Stoffwechsel immer generiert werden? Die Zellen haben weitere molekulare Mechanismen entwickelt, die die ROS entschärfen. ROS werden z. B. in die kleine Vesikeln gepackt und dadurch von dem Rest der Zelle isoliert und zum Wasser metabolisiert. ROS aktivieren auch zelluläre Sensoren, die die Aktivität der Gene regulieren, deren Produkte wiederrum ROS entschärfen.

Es gibt eine sehr interessante Erkenntnis über ROS-entschärfende Enzyme und über die Molekülkomplexe der Atmungskette, vor allem Cytochrom C: ihre Form war praktisch unverändert seit mehr als ein Paar Milliarden Jahren! Aber das würde bedeuten, dass bereits die ersten prähistorische Einzeller, unsere Vorfahren, bereits Abwehrmechanismen gegen ROS hatten und das in der Atmsophäre mit kaum Sauerstoff.

In diesem Artikel über die Evolution habe ich geschrieben, dass das Leben unter Sauerstoffmangel (anaerobische Bedingung) entstanden ist. Man hat lange gedacht, dass die ROS-abwehrende Enzyme erst entstanden sind, als der Sauerstoffgehalt in der Erdatmosphäre stark anstieg, dadurch die Zellatmung (Atmungskette) evolvierte und der erhöhte Sauerstoff im Zellmetabolismus immer mehr ROS
 produzierte. Nach den letzten Untersuchungen kam es raus, dass es wohl nicht stimmt. Die ersten Lebensformen hatten tatsächlich bereits die ROS-Abwehr, lange bevor es cool wurde.

Wisst ihr warum die Evolution so faszinierend ist? Weil die Evolution sehr clever vorgeht, z. B. nach solchem Schema: wenn man irgendwas schädliches nicht vermeiden kann, macht man es sich halt nützlich und dabei eine Vergiftungsgefahr gleich neutralisiert.

Erinnert ihr euch noch an das Wasserstoffperoxid, den Produkt der Sauerstoff-Aggression? Das Zeug ist ätzend, giftig für die Zellen aber gleichzeitig ist der Wasserstoffperoxid an der Zellproliferation beteiligt. Genauer genommen, der Wasserstoffperoxid hilft dabei, den Zellen zu signalisieren, wann sie sich vermehren sollen. Der Sauerstoff ist wirklich ein Gift, das man zum Leben braucht.

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